Wer bei "Knigge" nur an Messer und Gabel und an gezogene Hüte denkt und daraus das präventive Urteil fällt, hier sei ein Buch, das nicht unbedingt gelesen werden müsse, dem entgeht nicht nur ein tiefer Einblick in deutschen Alltag und in deutsches Gedankengut der zweiten Hälfte des 18. Jhd, sondern obendrein ein selten feines Stück Literatur. Ein Text, dessen Lektüre schon allein durch die Sicherheit der Wortwahl, den geschickten Satzbau und die Melodie der Sprache so erfreulich ist, dass ich ihn rückhaltlos empfehlen kann. Ein Text, der zudem in deutlichen, wenn auch freilich etwas altertümlichen Bildern nachvollziehbare Wegweiser durch das Labyrinth zwischenmenschlicher Beziehungen malt; ob daheim oder auf Reisen, privat oder geschäftlich; ob zum Umgang mit Kaufleuten, Handwerkern, Lehrern, Ärzten, Juristen oder Künstlern ... : und man ist immer wieder erstaunt über die Mühelosigkeit, mit welcher man die Brücke über die nun fast 250jährige Distanz schlagen kann, die Knigges Zeit von unserer trennt.
Die meisten der Empfehlungen, die er seinen Zeitgenossen zum Umgange miteinander gibt, dürften in seinen Tagen ebenso richtig gewesen und auf ebenso unfruchtbaren Boden gefallen sein, wie sie es heute sein und tun würden. Die von ihm an den Pranger gestellten Verfehlungen stehen jedenfalls ganz unverrückt auch jetzt noch da, im selben Kostüm, mit derselben Frechheit im Gesicht, und ihre Schilderung spendet immerhin den Trost, dass sich unsere Welt in den letzten Jahrhunderten trotz aller Massenmedien nicht wesentlich verschlimmert hat.
Die Offenheit und ehrliche Überzeugung, mit der Knigge aus dem gesamten Umfeld seiner Erfahrungen heraus redet, sollte es uns leicht machen, über heutzutage von der emanzipierten Frauenwelt mit Sicherheit als diskriminierend empfundene Passagen hinwegzusehen. Zumal Knigge selbst schreibt: "Weise Frauenzimmer allein können den Personen ihres Geschlechts die besten Lehren über ihr Betragen im gesellschaftlichen Leben erteilen; das ist eine Arbeit, die Männern nicht gelingen würde."
Was Knigge gelingt ist, dem gesunden Menschenverstand ein würdiges Denkmal zu setzen. Das Alter dieses Denkmals, gepaart mit seiner unvergilbten Mahnung, sollte Grund genug für einen gelegentlichen Ausflug zu ihm sein. Eine sentimentale Rose an seinem Sockel kann nicht schaden.