26. Juni 2017
Ich bin - manch einer wird es schon wissen - was Literatur, Musik und
Film angeht, ein ausgesprochener Wiederholungstäter. Während
viele Zeitgenossen von der kommerziell hochgezüchteten Gier nach
immer wieder Neuem gebeutelt werden, liebe ich es, alte Freunde und Bekannte
aufzusuchen und meine Stunden der Entspannung und der Muße in ihrer
bewährten Gesellschaft zu verbringen. Die älteste Freundschaft
ist mir keine Landschaft, in der ich nicht neue Entdeckungen machen könnte;
im Gegenteil: je vertrauter mir Licht und Schatten werden, umso mehr Nuancen
erschließen sich mir in ihnen. So manches kostbare Detail verlässt
sein gehütetes Versteck erst nach vielmaligem Besuch, wenn es sozusagen
merkt, dass man längst nicht mehr nach ihm sucht. Und wer weiß
schon, welche Stimmung sich perfekt für welches Werk eignet;
in welcher Stimmung man sein muss, dem Schwingkreis des eben zu Gemüte
geführten Angebots die interessantesten Resonanzen zu entlocken?
Abgesehen davon geht die Zeit ja nicht spurlos an mir vorüber. Sie
hinterlässt neben grauen Haaren auch einen allmählich sich summierenden
Betrag von Kenntnis und Weisheit. Er wächst nur deswegen nicht zu
erstaunlich hohem Berg an, weil es in den frisch erworbenen Schachteln
mit Kenntnis und Weisheit immer auch kleine Überraschungs-Figuren
aus dem bunten Volke der Vergesslichkeit gibt, die mit Schaufel und Hacke
emsig dabei sind, den kostbaren Berg wieder abzutragen.
Aber wie auch immer ...- im großen und ganzen wird man ja hoffentlich
nicht dümmer, und so durfte ich schon manchmal feststellen, dass
mir für die eine oder andere angebotene Lösung lange Zeit einfach
nur Frage und Formel gefehlt hatten. Waren Frage und Formel dann irgendwann
bekannt, bekam auch die bis dahin ungeschätzte Lösung einen
tieferen Sinn.
Zum Beweis für eben Behauptetes und dafür, dass die hohe Weihe
meines Geistes nicht etwa auch den Schwur beinhaltete, mich ausschließlich
edelsten intellektuellen Genüssen hinzugeben, sei hier auf einen
Film der alten englischen Comedy-Reihe "Carry on!" verwiesen:
"Carry on Behind".
Um diese Filme gutzufinden, ist es zweifellos nötig, ihre Schauspieler
zu mögen. Oft sind es Gesichtsausdrücke, Gesten und Dialoge,
die dem gewogenen Zuschauer schwungvoll über an den Haaren herbei
gezogene oder gar schlechte Handlung hinweg helfen. Und es ist hilfreich,
die Filme in ihrer Originalsprache, also in Englisch, zu sehen und zu
verstehen, denn einer ihrer größten Reize - zumindest für
mich - besteht in den manchmal unübersetzbaren Wortspielen, die einen
wichtigen Teil der Komik bilden.
"Carry on Behind" gehört wohl zu den besseren Filmen der
Serie; vielleicht auch, weil neben der üblichen Truppe auch Elke
Sommer auftritt. Aber es gibt hier eine Szene, von der ich mich immer
fragte, ob das denn nun wirklich wieder sein musste: Zwei Männer
in einem Wohnmobil machen sich für ein Tanzvergnügen fein. Einer
der beiden verwechselt das Deodorant mit dem Fliegenspray und macht reichlich
Gebrauch. Daraufhin meint der andere frohlockend: "It´s fly-spray!"
Als Reaktion darauf besprüht ihm der erste den Schritt. - Ein plumper
Witz scheinbar, und mehr als eindeutig unter der Gürtellinie. Ich
konnte ihn, sooft ich den Film sah, zwar verzeihen aber nicht goutieren.
Vor einer Weile dann stieß ich auf den Film "Silent Movie"
von Mel Brooks. Ein farbiger Stummfilm aus dem Jahr 1976. Trotz zwischenzeitlicher
Schwachstellen insgesamt ein köstliches Vergnügen, nebenbei
gesagt. Hier gibt es eine Szene, die sich um den peinlich offenen Hosenschlitz
eines großen Chefs dreht. Der eingeblendete Satz "Your fly
is open!" öffnete mir die Augen für jene Stelle in "Carry
on Behind". Und von dem Moment an war es lustig und gar nicht mehr
plump, wenn im Wohnmobil Herr numero Eins dem Herrn numero Zwei den Schritt
besprühte: Fly-spray für den Fly eben. (Fly = Hosenschlitz =
Fliege)
Jedenfalls habe ich in den vergangenen Wochen so einiges gehört,
gesehen und gelesen ...- gemäß oben Dargestelltem war allerdings
kaum etwas für mich Neues dabei. Und selbst diese Neuigkeiten waren
nur für mich neu. Für den Rest der Welt sind es mit ziemlicher
Sicherheit alte Hüte gewesen. Zum Beispiel die Stücke "König
Richard der Dritte" und "Ende gut, alles gut" von Shakespeare.
Beides nicht die genialsten Würfe des Alten Meisters - aber ich werde
mich mit dieser Meinung wahrscheinlich irren, denn Shakespeare ist unbedingt
ein Autor, der die Eigenschaft hat, im Geiste seines Lesers zu reifen.
So wird mein Urteil nach zweit- oder drittmaligem Lesen höchstwahrscheinlich
anders - und höchstwahrscheinlich positiver - aussehen.
Außerdem las ich einigermaßen fasziniert "Der Ring"
von Heinrich Wittenwiler. Für das Epos, das im Mittelalter, so um
1410 herum, entstand, gab es damals noch nicht so absurd viel Konkurrenz
wie sie Büchern heutzutage begegnet - was ein Grund dafür sein
wird, dass es überdauerte. Man ist ja froh, wenn man aus jener Vorzeit
überhaupt etwas schriftlich Festgehaltenes entdeckt. Der mir vorliegende
Reclam-Band beinhaltet übrigens die frühneuhochdeutsche Originalversion,
begleitet von einer Übertragung ins Neuhochdeutsche. Letztere ist
literarisch allerdings entbehrlich und höchstens als eine Art Wörterbuch
für aus dem Originaltext gelegentlich Undeutbares zu gebrauchen.
... "Freunt und gsellen, dar zuo weib
Saument in an sel und leib,
An guot, an nutz und auch an er,
An kunst, an zucht und dar zuo ler." ...
Ich kann nicht sagen, dass ich diese Sprache besonders schön fände
- obwohl die Verse durchgängig anständig gereimt sind. Auch
die Handlung des Rings, ein Bauernschwank, ist nicht wirklich aufregend,
und die durch ihn übermittelten Botschaften und Weisheiten lassen
sich leicht übertreffen. Aber als Blick in eine 600 Jahre entfernte
deutsche Vergangenheit ist das Werk, wie gesagt, faszinierend.
Auch einen Blick in die Zukunft habe ich mir gegönnt ...- ich muss
gestehen, dass ich sowohl Orwells "1984" als auch Huxleys "Schöne
neue Welt" bisher nur aus Besprechungen oder Erwähnungen kannte.
Inzwischen endlich habe ich wenigstens die "Schöne neue Welt"
auch selbst einmal gelesen.
Fast der ganze Rest waren mir alte Bekannte. Zum Beispiel Robert Merles
"Hinter Glas", Leo Perutz´ "Der schwedische Reiter"
und "Sankt-Petri-Schnee", Ephraim Kishons "Picasso war
kein Scharlatan", Ernst Jandls Frankfurter Vorlesung "Das Öffnen
und Schließen des Mundes" und Helmut Hochrains "Das Taschenbuch
des Pfeifenrauchers". Und, natürlich, immer wieder Nietzsche,
Schopenhauer und Wilhelm Busch.
Nur von zwei relativen Neuigkeiten kann ich berichten: Das Buch "Der
Hecht, die Träume und das Portugiesische Café" von Uwe
Tellkamp wurde erst vor 17 Jahren veröffentlicht - und auch der Autor
ist noch keiner von den Alten; er ist immerhin jünger als ich. Eine
verträumte und zum Träumen verführende Geschichte, die
als Film unbedingt mit einem "nostalgischen" Gelbfilter gedreht
werden wird. Besonders freudig hat mich überrascht, dass der Verlag
Faber & Faber, Leipzig, bei dem das Buch im Jahre 2000 erstmals erschien,
vom Autor offenbar nicht verlangte, alle Adjektive aus dem Manuskript
zu entfernen.
Außerdem bin ich beim Streifen durch die Gefilde der Musik auf
eine von mir bis dato ungehörte Sensation gestoßen: Lajkó
Félix!
Ich muss an Paganini denken, wenn ich Lajkó Félix höre.
Ich habe mich oft gefragt, wie Paganini, der "Teufelsgeiger",
wohl leibhaftig gespielt hat. Wenn man den Geschichten Glauben schenkt,
dann konnte er mit seiner Geige gleichermaßen bezaubern und verhexen.
Ich würde sagen: Lajkó Félix kann das auch.

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