Aus aktuellem Anlass ein spätes Wort voran:
Wer der Kunst mit Begriffen wie "Formel", "Definition", "Regel" etc. zu Leibe rückt, hat kaum Verständnis zu erwarten, sondern, im Gegenteil, sich unentwegt gegen Angriffe zu wehren. Wenn ihm nicht gar eigennützige Motive unterstellt werden, bemüht man sich, seine Aussagen mittels Wortklauberei der Haltlosigkeit zu überführen. Wer sich der Kunst mit Formel und Definition nähert, sticht in ein Wespennest. Alle verteidigen die Kunst. Und das ist im Prinzip auch gut und richtig so, denn die Kunst ist tatsächlich etwas besonders Kostbares, und ihr Reich sollte unantastbar sein und bleiben.

Weshalb, so darf man sich fragen, taste ich es also an?
Ganz einfach: Weil es längst schon nicht nur angerührt, sondern vollkommen und erbarmungslos okkupiert ist!
Das Reich der Kunst wird vom Geldbeutel und von Lobbyismus beherrscht - nicht anders als die Reiche der Ökonomie und der Politik. Und das Geld hat leichtes Spiel, denn Dank der Verteidigung der Kunst durch all ihre Anhänger und Gläubigen gegen jede Art von Eingrenzung bleibt letztendlich das Geld als einziges Kriterium. Und ich sage Ihnen: Im Geschäft mit der Kunst stecken Millionen und Milliarden!
Es gibt noch immer Nischen und Freiräume, das gebe ich zu und bin froh, es zu können. Jeder freischaffende Künstler, solange er nicht "gehandelt" wird, kann so eine Nische sein; ein kleines Rückzugsgebiet für die Kunst, in dem sie wirklich noch frei sein darf. Doch wie viele solcher Reservationen es auch geben mag - sie sind alle umzingelt und belagert von der Willkür jener, die mit ihrem Geld bestimmen, was Kunst ist und was sie wert ist. Diese haben das Reich der Kunst besetzt, eingenommen und ihren Gesetzen unterworfen. Sie bestimmen, was ausgestellt und in Medien besprochen wird; sie bestimmen, was an Schulen und Universitäten gelehrt wird; sie bestimmen die Arbeitsweise und die Strategien der großen Museen und Galerien.

Ich muss in Zeitungen immer wieder lesen und von ihren Lesern widergekäut hören, dass z.B. G. Richter der Kunst neue Maßstäbe setzte, als ein Bild von ihm auf einer Auktion einen unerhört hohen Preis erzielte. Was ist das für ein Maßstab?! Nichts von Licht, Luft, Raumaufteilung, Auftrag, Duktus, Gestus, Linie, Spur oder Invention; nichts von Formfindung, Kontrast, Brechung oder Eigenwert der Farbe. Nichts von Malerei. Das Geld ist der einzige Maßstab. Aber freilich: Es ist der einzige, der konkret und greifbar ist und zählt. Es gibt keinen anderen, und die Freiheit ist es erst recht nicht. Denn diese Freiheit wird so sehr verteidigt, dass sie Willkür und Beliebigkeit nichts entgegenzusetzen hat.
Ich nähere mich der Kunst mit Definition und Formel nicht, um ihre Freiheit zu beschränken, sondern um dieser Freiheit genug Substanz und Gewicht zu geben, dass sie sich selbst verteidigen kann.

Bevor Sie nun also damit beginnen, Ihre Gegenargumente zu formulieren: Lesen Sie bitte zuerst, was ich zum Thema "Was ist Kunst?" zu sagen habe. Danach lasse ich mich gerne auf Diskussionen ein und würde mich sogar freuen, wenn Sie mich im einen oder anderen Punkt berichtigen oder "eines Besseren" belehren können.

Portugal, Lagos, im August 2017