e-books
Was hat 1.532 Seiten und wiegt so etwa 1,5 kg? Richtig. "Krieg und
Frieden" heißt das Buch. Ich bin erst auf Seite 504 und finde,
es gehört nicht umsonst zur Weltliteratur. Tolstoi schreibt opulent,
farbenprächtig und spannend; seine Figuren leben und handeln innerhalb
ihres weit gespannten Beziehungsnetzes; es mangelt nicht an tiefsinnigen
Betrachtungen zu Moral und Gesellschaft, und doch macht die ganze Sache
einen relativ nüchternen Eindruck. Das meine ich als Lob. Man fiebert
und leidet nicht mit den Akteuren, weil man selbst mit dem, irgendwie
immer präsenten, Erzähler weit über dem Erzählten
schwebt und die Geschichte sozusagen aus der Vogelperspektive wahrnimmt.
Da ist nichts überzuckert oder in Blut gebadet, weil Zucker und Blut
nur Worte sind, die eben Zucker und Blut bedeuten. Erzählkunst.
So schön es ist, mit dem Erzähler zu schweben - das Buch selbst
schwebt nicht. Und seine geschätzten anderthalb Kilo verwandeln sich
schnell in gefühlte fünf, wenn man es, auf dem Rücken liegend,
als Bettlektüre in Leseentfernung (Altersweitsicht!) über dem
Kopf hält. Möglichst noch in nur einer Hand und mit den Fingern
die Seiten auseinanderhaltend. Da wird man schneller müde als man
denkt. Und man denkt, ob die e-books wirklich so eine dumme Sache sind,
wie man immer dachte. Klar möchte man kommunizierende Elektronik
noch weniger gerne im Bett haben als eine offene Dose Hundefutter, aber
wäre es nicht manchmal doch praktisch? 1.532 Seiten auf einer handlichen
Anzeige, und die Schriftgröße kann man der Sichtigkeit anpassen;
selbst Hellsehen und Schwarzsehen lassen sich bequem per Knopfdruck oder
Touchscreen bedienen. Auch eine Leselampe würde überflüssig.
Na?
Nein! Ich halte das Gewicht und nehme den Muskelkater in Kauf. Wenn es
gar nicht mehr geht, dann lese ich das Buch eben sitzend am Tisch und
küre mir eine andere, leichtere Nachtlektüre. Aber kein e-book!
Nun könnten Sie sagen, Was für ein fortschrittsfeindlicher Neuerungsmuffel.
Und Sie hätten sogar teilweise Recht. Meine kind- und jugendliche
Begeisterung für alles Ferngesteuerte, Automatische und Elektrische
ist Stück für Stück dahingeschmolzen, seit ich immer öfter
erleben musste, dass der ganze Kram sich nicht mehr oder nur noch von
teuren Spezialisten reparieren lässt. Seit ich erkannte, dass uns
das Gerümpel nicht befreit sondern in Abhängigkeiten bringt.
Sogar Kabel werden heute nämlich so hergestellt, dass man sie unmöglich
selber löten kann. Denken Sie nicht, dass die Industrie die Hälfte
des Kupfers durch Kunststoff ersetzt, um die Dinger flexibler und haltbarer
zu machen. Ich habe Kabel in einer Wühlkiste, die sind älter
als ich. Sie sind weich und biegsam und lassen sich löten wie verrückt,
und wenn man sie zerschneiden will, braucht man scharfes Gerät. Modernes
Zeug?: Noch bevor die erste Batterie leer ist, hat sich die Isolierung
in Erdöl oder Steinkohle zurückverwandelt. Aber das macht nichts,
weil die Stecker inzwischen sowieso einen Wackelkontakt haben. Apropos
Batterie: In die Erfindung von Batteriefächern, in die keine Batterie
mehr passt, die auch nur eine andere Farbe hat als die "Original"-Batterie,
wird mehr Kreativität gesteckt als in das ganze Gerät. Ist kaputt?
Schmeiß weg, kauf neu!
Aaaaber nicht mit mir!, wie Loriot sagen würde.
In unserem Bücherregal stehen, unter anderen, Bücher, die fast
zweihundert Jahre alt sind. Und - fertigmachen zum Staunen! - es steht
immer noch genau dasselbe in ihnen wie am ersten Tag. Wie wäre das
wohl, wenn sie vor zweihundert Jahren als e-book erschienen wären?
Reden wir gar nicht von Schriftart oder Seitengestaltung. Reden wir von
Inhaltlichem. Jede sogenannte Rechtschreibreform würde sich zeitnah
im Text wiederfinden. Eben lasen Sie in Ihrem Robinson Crusoe noch, dass
er mit einem Experiment badengegangen sei, und plötzlich ist er mit
ihm baden gegangen. Okay, werden Sie sagen, aber das fällt den meisten
ja doch nicht auf. Zugegeben. Außerdem ist mir klar, dass Sprache
etwas Lebendiges ist. Sie entwickelt sich, vermischt sich mit anderen
Sprachen, nimmt neue Begriffe in sich auf und schöpft bisher noch
unbekannte Wörter für bis dato unbekannte Dinge; ihre Dynamik
ändert sich mit ihrem Gebrauch im Alltag, und all das muss sich nach
und nach auch in ihren Normen und Regeln wiederfinden. Wenn genügend
Leute über einen genügend langen Zeitraum ein Wort immer wieder
fehlerhaft schreiben oder einen Satz immer wieder fehlerhaft konstruieren,
dann ist es möglicherweise ökonomischer, Falsch für Richtig
zu erklären als den Sprachunterricht an Schulen und Universitäten
zu verbessern. Darüber kann man verschiedener Meinung sein, aber
alles in allem ist es ein natürlicher Prozess.
Vollkommen unnatürlich und geradezu absurd ist es aber, wenn sich
gelangweilte Politiker und sich vor Arbeitslosigkeit fürchtende Sprachwissenschaftler
hinsetzen und sich - fernab aller Praxis - neue Regeln aus den Fingern
saugen, um sie den Sprechenden und Schreibenden dann per Gesetz aufzuzwingen.
Möglicherweise entwickelt sich Sprache auch auf eine solche Art.
Doch diese Art ist krank und macht die Sprache krank. Aber so wird es
heute gemacht.
Wäre das alles nur irrsinnig, könnte man seine Witze darüber
reißen. Doch wer sich die Mühe macht, unter die Narrenkappe
zu schauen, wird bald erkennen, dass da nicht etwa harmlose Spaßmacher
sitzen, sondern knallharte Ideologen. Sprache als Verständigungswerkzeug
zur eindeutigen Übermittlung von Gedankeninhalten? Viel zu gefährlich!
Wenn die Chance bestünde, per Rechtschreib- und Grammatikregel ein
"Auf in den Kampf!" zum "Ugh ugh!" zurückzureglementieren,
würden sie es tun, und bestimmt denken sie schon längst darüber
nach, wie es funktionieren könnte. Vielleicht schaffen sie es nicht.
Aber genug haben sie auf alle Fälle schon geschafft, um nicht zu
sagen, verbrochen.
Dabei fällt mir aus aktuellem Anlass ein, dass die Mimik ein ebenso
wichtiges Mittel der Kommunikation ist wie die Sprache. Nun, die Mimik
dafür völlig unbrauchbar zu machen, hat man sich etwas ebenso
Simples wie Wirksames einfallen lassen: Die Maskenpflicht.
Zurück zum Thema. In Ihrem Robinson-e-book würden also alle
offiziellen Sprach- und Schreib- und Benimmregeln immer fein umgesetzt
zu lesen sein. Inzwischen, nach zweihundert Jahren also, hieße Robinson
längst nicht mehr Robinson, weil, nun "...son" ist ja Englisch
und heißt Sohn. Was ist denn aber mit den Töchtern?! Häh?!
Dürfen die nicht eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die Söhne?
Oder wie?! Oder was?! Also heißt Ihr Robinson nun Robinmen oder
Robinpeople. Okay, Robinpeople hopst also auf seiner Insel herum und trifft
eines Tages ...- nein, nicht auf Kannibalen, die sich einen Neger braten
wollen, sondern auf einen Stamm von EingeborenInnen, die eben ihren stark
pigmentierten, bildungsfernen Gast zur Stätte der Ausführung
einer kulturell durchaus bewahrenswerten Zeremonie führen.
Lustig? Ja, aber nur, wenn Sie wissen, dass es lustig ist. Zweihundert
Jahre nach dem e-bookigen Erscheinen Ihres Robinsons würden Sie die
Geschichte von Robinpeople für bare Münze nehmen. Sie hätten
einen gender- und socialcorrecten Robinson vor sich, aus dem alle sexuell
und ethnisch anstößigen Begriffe verschwunden sind. Einen Robinson,
in dem keine schwierigen Wörter vorkommen, die man womöglich,
auf die Gefahr hin, seinen Horizont zu erweitern, erst nachschlagen muss.
Einen Robinson, der eventuell auch gar niemals Schiffbruch erlitten hat;
denn die Industrie hat ein paar mächtige Finger in den Superverlagen
und findet Schiffbruch nicht gut. Auch wird in Ihrem Buch stehen, dass
Robinpeople auf seiner Insel solchen Erfolg hatte, weil die Körner,
die er auf seine Felder streute, sorgsam genmanipuliert waren und durch
Kreuzung mit Vogelscheuchen-Erbgut ganz von selbst in der Lage waren,
plündernde Krähen zu verjagen.
Machen wir es kurz: In einem e-book kann und wird jeder rechtlich nicht
geschützte Text willkürlich und nach Belieben verändert
werden. Und früher oder später verliert jeder Text diesen Rechtsschutz.
Dann macht es ein einziger Knopfdruck möglich. Aus Hinz wird Kunz,
aus A wird B, aus Falsch wird Richtig. Sprache ist so ein mächtiges
Werkzeug!
Da stieß ich doch letztens im "Kulturfahrplan" von Werner
Stein (F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung München - Berlin - Wien, 1974)
auf folgende Notiz zu politischen Begebenheiten aus dem Jahr 1945: "Zweifacher
nächtlicher Luftangriff auf Dresden zerstört die Stadt und fordert
große Opfer (Angriff dient zur Unterstützung des sowjet. Vormarsches)"
Merken Sie, was hier durch gezielte Weglassung stattfindet? Wenn man das
ahnungslos und unwissend liest, weiß man sofort, dass es die Russen
waren, die Dresden zerbombten, nicht wahr? Dieser Eindruck ist gewollt.
Dass es englische Flieger waren, die da alles kurz und klein bombten,
und nicht etwa die Russen, ist so eine kleine Nebensache, die man in einem
Nachschlagewerk ruhig unterschlagen darf ...- einem Nach-unter-schlagewerk.
Das passiert in gedruckten Werken, die man, vielleicht, in besseren Zeiten
einmal für ihre Fehler oder Weglassungen zur Verantwortung ziehen
kann. Die Möglichkeiten, die Inhalte von e-books straflos zu manipulieren,
sind dagegen immens. Und kinderleicht zu bewerkstelligen. Ihr Gerät
wird es schlucken, weil es sich ja immerzu brav updatet. Und so würde
eines Tages Kant die Mechanismen der Freien Marktwirtschaft bewiesen und
Marx das Kapitalistische Manifest geschrieben haben ...- wenn es die richtigen,
echten Bücher nicht noch gäbe.
Und deshalb kommt mir kein e-book ins Haus.
24. Oktober 2020
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