John Steinbeck
Geld bringt Geld (1961)

Empfehlungen unter dem Motto: "Das Buch liest sich total leicht weg!" haben bei mir automatisch den Effekt, dass ich die entsprechenden Bücher nicht anrühre. Wenn ich etwas brauche, das sich total leicht weg liest, dann lese ich Comics und bleibe meinem Lesegeschmack auch hier insofern treu, als ich in Produkten, die jünger als zwanzig Jahre sind, nur selten blättere und sie noch seltener nachhaltig gutfinde. Das wird wohl kaum daran liegen, dass ich etwa mit fortschreitendem Alter für Komik weniger empfänglich werde sondern eher daran, dass die "moderne" Komik eben, wie supercremige Süßigkeiten oder superbedienerfreundliche Software, auch bloß noch dafür produziert wird, dem Konsumenten möglichst wenig Widerstand zu leisten. Wenn mir die Schokolade sortenununterscheidbar mitsamt der Zunge und den Geschmacksnerven im Munde zergeht, habe ich schnell die Nase voll davon; und so geht es mir auch mit Software, die meint, mir wäre Rechtschreibung zu anstrengend oder eben mit Texten, die vor lauter Angst, mich zu überfordern, ihre halbleeren Sätze in zwanghaft kurze Absätze packen, damit der Leser, noch bevor er merkt, dass er sich geistig etwa bewegt hat, schonmal verschnaufen kann.
John Steinbecks "Geld bringt Geld" hat mit alledem gar nichts zu tun. Ich hatte ihn aus einem anderen Grund bisher nicht angerührt.
Das Buch steht als Ergebnis ehelicher Haushaltszusammenführung seit über dreißig Jahren in einem unserer Regale, hat uns bei unseren Umzügen begleitet und ist von mir mehrmals in die Hand genommen und aufgeschlagen worden. Aber, bis vor kurzem, nie gelesen.
Irgendwie hatte mich der Titel immer abgeschreckt. Geld. Meine Beziehung zum Geld ist nicht besonders herzlicher Natur, und was ich mir dafür kaufen oder leisten kann, ist mir allemal wichtiger als das Ding an sich. Nichts lag mir also ferner, als ein Buch über Geld zu lesen und mich womöglich in die Sorgen und Komplikationen sogenannter Finanzexperten zu vertiefen, um zu erfahren, wie man aus Geld noch mehr Geld machen kann. Bekanntlich gibt es für entsprechend konditionierte Menschen keine Obergrenze und demzufolge wird ihr Ruf nach "Mehr!" erst verstummen, wenn der Sensenmann sein Werkzeug schwingt. Da versagt meine Empathie. Belletristik, die sich solchen Nöten widmet, hat also kaum eine Chance, von mir gelesen zu werden.
Aber augenscheinlich gehöre ich damit zu einer Minderheit, denn der professionelle Verleger eines Buches feuert sein gedrucktes Geschütz naturgemäß in die größte ihm erreichbare Zielgruppe, und - um im Bild zu bleiben - was dem Richtschützen Kimme und Korn ist dem Verleger der Buchtitel. Da im Gegensatz zum Inhalt eines Buches der Titel sofort ins Auge oder in die Suchmaschine springt, wird er vom Verleger entsprechend seiner Jagdmethode bestimmt. Darüber wundern Sie sich nicht? Nun, mich wundert das, und ich komme nicht darüber hinweg: Ein Autor, ein Dichter, vielleicht gar ein Poet dreht und wendet jedes Wort seiner Zeilen; er formt, glättet Kanten, ebnet Übergänge und Verbindungen, feilt, schleift und poliert, um seinen Gedanken ein dienstbares Gefäß zu schaffen. Diesem baut er - ebenfalls mit Worten - eine Vitrine mit punktgenauer Beleuchtung und stellt sie in einen sorgsam ausgewählten und gestalteten Raum in ein seiner Absicht gemäß mehr oder weniger gastfreundliches Haus in einer passenden Umgebung. Das meint er seiner Idee und seinem Handwerk schuldig zu sein. Und selbstverständlich nennt er sein Werk nicht "Ohne Titel", sondern investiert eine Menge Zeit und Inspiration in die Überschrift, die ihn selbst, sein Denken und den Inhalt des Buches zusammenfassen soll. Doch während der Inhalt durch Autoren- und Persönlichkeitsrechte geschützt ist, muss der Autor bei einer Übersetzung die grässlichste Vergewaltigung seines Titels erdulden. Nicht einmal der Übersetzer hat dabei ein Mitspracherecht, sondern der Verlag entscheidet gemäß seiner Verkaufsstrategie. Ich meine - wenn es um Seitenlayout, Umschlaggestaltung oder Illustrationen geht, okay. Das sind Zubereitungsformen, die dem Hersteller des Produkts selbstverständlich überlassen bleiben dürfen, und schließlich sind diese Dinge auch nur in den seltensten Fällen Teil der schriftstellerischen Autorentätigkeit. Ein Buchtitel jedoch ist meiner Meinung nach wichtig und elementar und dürfte eigentlich ebenso wenig willkürlich geändert werden wie der Gegenstand des Textes.
Inzwischen vermuten Sie schon, und Sie vermuten richtig: "Geld bringt Geld" ist nämlich nicht der wirkliche Titel des Buches. Sein Geburtsname war: "The Winter of Our Discontent" - "Der Winter unsers Mißvergnügens", wie der treffliche A.W. von Schlegel diese Worte aus der ersten Zeile von Shakespeares "König Richard der Dritte" übersetzt hat.
Ja, "Der Winter unsers Mißvergnügens" - das wäre ein Titel gewesen, der mich unbedingt zum Lesen verlockt hätte. Aber wohl keiner, mit dem man ein deutschsprachiges Lesepublikum en gros ködern kann. Und so vegetierte das arme Buch unter der für mich völlig uninteressanten Überschrift dreißig Jahre lang vor sich hin, ohne von mir gelesen zu werden.
Inzwischen hat sich das geändert.
Der Literaturwissenschaft hat meine Leseerfahrung nichts hinzuzufügen. Ich weiß noch immer nicht, wer John Steinbeck war und was bedeutsame Meinungsvorbilder über das Buch sagen ...- vielleicht schlage ich das einmal in einem Lexikon oder im Internet nach, und Ihnen kann ich nur dasselbe empfehlen, wenn Ihr Bildungsdrang Sie in diese Richtung treibt. Jedenfalls kann ich sagen, dass mir das Buch so gut gefiel, dass ich es garantiert noch einmal lesen werde. Es ist ein Buch, das genügend Fäden lose lässt, ohne deshalb unvollständig zu sein. Es ist inklusive Vielschichtig- und Tiefgründigkeit hervorragend geschrieben, und ein rhythmischer Wechsel der Erzählperspektive sorgt dafür, dass die Stimmung auch parallel zu den spannenden Geschehnissen interessant und seltsam bleibt. So seltsam, dass ich einige Kapitel gleich beim erstenmal wiederholt gelesen habe. Ich war verblüfft und erfreut darüber, dass unser heimisches Bücherregal immer noch unentdeckte Schätze beherbergt, und ich könnte mir vorstellen, dass John Steinbeck nicht die letzte dieser Entdeckungen sein wird.

07.01.2022