Das Sich-von-Büchern-Trennen
Wer viel und gerne liest - ich zähle mich dazu - trennt sich normalerweise
nicht von Büchern. Wozu auch? Wohnungen sind meistens groß
genug für Bücherregale, und bei geschickter Ausnutzung des darin
vorhandenen Platzes lassen sich Bücher gar in zweiten und dritten
Reihen aufbewahren; außerdem natürlich waagerecht über
ihre senkrecht stehenden Kameraden legen ...- wer das Glück hat,
eine einigermaßen geräumige Wohnung zu bewohnen, wird immer
ein Plätzchen für immer noch ein Buch finden. Wozu also sollte
man sich von Büchern trennen? Sogar ungelesen, sogar unlesbar, machen
sie sich nett als Zimmerschmuck und bieten einem umtriebigen Geist auch
in der ansonsten langweiligsten Umgebung inspirierende Beschäftigung,
indem er seinen Blick die Buchrücken inspizieren lassen kann, um
Höhe, Pracht und Umfang miteinander zu vergleichen und aus den unzähligen
Buchtiteln auf den Charakter des Regalbesitzers zu schließen. Auch
rein optisch lassen sich durch geschickte Anordnung von Rhythmus und Farbe
sehr dekorative Effekte erzielen. Vor allem freilich badet der sich so
als Vielleser präsentierende Hausherr im Glanze intellektueller Regsamkeit,
denn Lesen - wie wohl jeder weiß - bildet.
Wird die Wohnung dann aber doch einmal zu klein für all die Bücher,
ist guter Rat teuer. Bücher sind irgendwie heilige Gegenstände.
Man schmeißt sie nicht weg und schon gar nicht ins Feuer. Oh!, da
tun sich finstere Abgründe auf! Nein, Bücher haben Respekt verdient.
Schon an all das Papier zu denken: Sorgsam geschöpft, gebleicht,
beschnitten, bedruckt, gebunden und nun Träger der famosesten Geschichten
und Gedanken. Aber seien wir ehrlich: Bei sieben Millionen Neuerscheinungen
monatlich kann der Fall nicht ausbleiben, dass vielleicht doch mal ein
Buch dabei ist, dessen Geschichte am Ende dann gar nicht so famos war
und dessen Gedanken womöglich flach und überflüssig. Nun,
meistens machen sich gebrauchte Bücher als Geschenk noch recht gut.
Selten, dass man niemanden findet, der sie nimmt. Man kann sie manchmal
auch gegen wenige Cents pro Kilo im Buchladen abgeben, um nachher zu erleben,
wie das Stück fast zum Neupreis als Secondhandware wieder verkauft
wird. Oder man kann sie in Kisten tun, die man sorgsam verschließt
und stapelt, um sie dann in einer Ecke des Bodens oder des Kellers der
Feuchtigkeit und den Mäusen zu überlassen.
Es ist nicht leicht, sich von Büchern zu trennen.
Tatsächlich habe ich für das Problem keine Universallösung
anzubieten, obwohl wir uns aus Platzgründen schon von vielen Büchern
haben verabschieden müssen. Worauf man meiner Meinung nach immer
leicht verzichten kann, sind mehrere Meter Kochbuch. Auch wenn sie sich
als Unterhaltungsroman, Bilderbuch oder Medizinischer Ratgeber tarnen.
Zum wirklich gut, einfalls- und abwechslungsreich Kochen und Backen dürften
vier, maximal fünf Bücher ausreichend sein. Und man wird feststellen,
dass diese fünf Bücher bereits vor hundert Jahren geschrieben
wurden. Also weg mit dem Rest! Sodann haben wir hier unsere Autorensammlungen.
Du meine Güte: Nur weil Meister Schreibviel mal einen wirklich gelungenen
Bestseller verfasst hat, müssen wir noch lange nicht alles in Ehren
halten, was er sich jemals abrang. Die Auswahl fällt freilich nicht
leicht, vor allem, wenn der Verlag clever genug war, die Buchrücken
so zu gestalten, dass ihre richtige Aufeinanderfolge eine Botschaft oder
ein Bild oder auch nur ein grafisch interessantes Muster ergibt. Sowas
reißt man nicht auseinander, oder? Aber wieso nicht?: Man kann,
darf und sollte es tun, denn schließlich müssen wir doch nicht
auf jeden Trick hereinfallen.
So. Und hier kommen wir zu unseren vielgeliebten Krimis. Mrs Marple ist
ein Büchermuffel gegen uns. Es sind eindeutig viel zu viele. Allerdings
wird mein Rat hier sehr persönlich, und meine Lösung kann bestimmt
unmöglich verallgemeinert werden. Wer kann von sich schon sagen,
dass ihm im Prinzip ein einziger Krimi ausreicht, immer wieder spannend
und überraschend unterhalten zu werden? Können Sie sich vorstellen,
dass ich Raymond Chandlers "Die Tote im See" oder "Leb
wohl, mein Liebling" oder Hammets "Der Malteser Falke"
schon mindestens fünfmal (wahrscheinlich öfter) gelesen habe,
ohne Ihnen sagen zu können, wer der Mörder war? Im Ernst, wenn
Muße und das Bedürfnis, den Kopf freizukriegen, mich zu diesen
Büchern greifen lassen, lese ich sie weniger des Plots als vielmehr
der Stimmung wegen und bin nach wie vor bei jeder Wendung gespannt auf
die kommenden Ereignisse. Es macht mir Spaß, Philip Marlowe oder
Sam Spade durch ihre Ermittlungen zu begleiten, und nur darum geht es
mir beim Lesen. Natürlich muss man dazusagen, dass die Fälle
und Privatdetektive von Chandler und Hammett sich so ähneln; durch
Verfilmungen, Parodien, Liedtexte, Zitate und diverse Anspielungen derart
miteinander vermischt sind, dass auch ein merkbereiterer Leser als ich
womöglich Schwierigkeiten hätte, die einzelnen Geschichten zu
rekonstruieren. Jedenfalls fällt es mir ebenso leicht, mich von Krimis
zu trennen wie auf ihren Kauf zu verzichten, zumal das Resümee des
herrlichen Films "Eine Leiche zum Dessert" alles sagt, was es
über Krimis zu sagen gibt und mir quasi aus dem Herzen spricht.
Frei von überflüssigen Kriminalromanen und Kochbüchern
sollten unsere Regale inzwischen wieder atmen können. Worum haben
wir uns noch nicht gekümmert? Oh, die Fachliteratur. Malerei, Biografien,
Nautik, Universale Lexika, Philosophie, Geschichte, Flora und Fauna, Astronomie
...- Halt! Die Finger weg von ihnen! Sie dürfen in unseren Regalen
so viel Platz einnehmen wie sie wollen, solange wir zum Beispiel darauf
achten, nicht etwa Precht mit Philosophie
zu verwechseln. Denn es gibt durchaus gute und schlechte Fachliteratur;
Brauchbares wie Nutzloses, und wir können den Unterschied oft schon
daran erkennen, wieviel Werbung für gewisse Bücher oder Autoren
veranstaltet wird. Viel Werbung für eine Sache sollte uns immer misstrauisch
machen.
Vorerst behalten wir die Fachliteratur also, und wenn sie uns noch so
überflüssig vorkommt: Wir haben da, fällt mir ein, zwei
oder drei Mathematikbücher zu stehen, bei deren Anblick ich mir sowas
von sicher bin, dass ich nie in meinem Leben in die Lage kommen werde,
interessiert darin zu blättern ...- aber wer weiß das schon?
Vielleicht stoße ich irgendwann in einem Buch, einem Film oder einem
Gedicht auf ein Phänomen, das mir ein so besonderes Licht in die
Welt der Zahlen wirft, dass es mich drängt, mich meinerseits ebenfalls
ein wenig zu erleuchten? Ich halte es für möglich. Und in einem
solchen Fall - wie in allen anderen - wertschätze ich den Griff zum
Buch allemal mehr als den Blick ins Internet.
Apropos Blick - lassen wir ihn noch ein wenig schweifen: Ja, da stehen
sie, die guten alten Kinder- und Jugendbücher. Von einigen mag man
sich einfach nicht trennen, weil man doch hin und wieder darin blättert
oder sie immer noch mit ganz und gar der alten Begeisterung lesen kann.
Tolkiens "Der kleine Hobbit" und seine Trilogie "Der Herr
der Ringe" wünsche ich mir als Grabbeigabe mit in meinen Sarkophag.
Ebenso die Abenteuer Tom Sawyers und Huckleberry Finns von Twain. Gerne
auch "Der kleine Mumin" von Tove Jansen und Stevensons "Die
Schatzinsel". Nun ja, in einem Sarkophag ist oft noch weniger Platz
als in einer Wohnung. Aber diese Bücher und natürlich auch sämtliche
Bände der "Söhne der Großen Bärin" von
Liselotte Welskopf-Henrich, Dumas´ "Die drei Musketiere"
und viele andere Beglücker meiner Jugendjahre dürfen in den
Regalen verbleiben. Die einzige Bedingung ist, dass ich sie nicht nur
aus nostalgischen Anwandlungen, sondern vor allem ihres Inhaltes und ihrer
Sprache wegen lesen kann. Ehemals gern verschlungene und behütete
Kinderbücher, von denen wir uns dennoch trennen konnten, sind freilich
längst in den Besitz unseres Nachwuchses übergegangen, wo wir
sie anlässlich eines Besuchs wieder lesen können, wenn uns danach
sein sollte. Ich weiß, ich habe es an anderer Stelle bereits erwähnt:
Es gibt Bücher, deren Zeit einfach vorüber ist. Ich hoffe, nie
wieder in eine Stimmung zu kommen, in der ich Astrid Lindgrens "Die
Brüder Löwenherz" oder "Mio, mein Mio" zu lesen
müssen meine, und Arkady Fiedlers "Die Insel der Verwegenen"
und "Orinoko" werde ich unter Garantie nicht mehr anrühren,
sosehr ich sie auch einst geliebt habe. Erstere sind mir einfach zu effekt-sentimental,
während der Hauptheld der beiden Fiedler-Bücher dermaßen
unerträglich großartig und unfehlbar und bewundernswert ist,
dass Old Shatterhand dagegen menschlich, allzumenschlich wirkt. Trotzdem
werde ich all diese Bücher unseren Enkeln empfehlen, wie ich sie
unseren Kindern empfohlen habe, denn es gibt Lebenszeiten, in denen Sentimentalität
ebenso wie unerträgliche Großartigkeit zu den notwendigen Ingredienzen
gehört, und ich habe meine eigene Begeisterung, so lange sie her
ist, nicht vergessen.
Weiter wandert das Auge und bleibt an den Gedichtbänden hängen.
Da man sich Gedichte selten als abendfüllende Kulturveranstaltung
antut, sondern sie wie erlesene Köstlichkeiten zu passender Gelegenheit
wohldosiert in sich aufnimmt, dürfen sie so sentimental, unfehlbar,
übertrieben oder albern sein, wie sie nur wollen. Es gibt Gedichte,
die mich zu Tränen rühren. Zwei fallen mir auf Anhieb ein: "Erste
Lerche" von Arno Holz und "Chanson" von Ernst Jandl. Sie
und so viele andere Gedichte von diesen und so vielen anderen Dichtern
sind wie Zaubersprüche: Im richtigen Augenblick intoniert verwandeln
sie die Welt. Es gibt Gedichte jeder Art, für jeden Anlass, und selbst
ein Gedicht banalen oder unsinnigen Inhalts kann ich mit Vergnügen
lesen, wenn es gut geschrieben ist.
Tucholsky, Kästner, Goethe, Shakespeare, Coleridge, Busch, Kahlau,
Heine, Nietzsche, Burns, Rilke ... wer ihre Gedichte in seinem Hause hat,
wird nie um eine Idee verlegen sein, wie er mich, als seinen Gast, beschäftigen
kann. Und also werden sie auch bei uns in Ehren gehalten.
Nun könnte man denken, wir hätten unsere Regale von allem Zweifelhaften
oder Überflüssigen befreit. Doch dem, so fürchte ich, ist
gar nicht so: Es gibt, neben Büchern, die ich gerne und immer wieder
lese, doch noch viele Werke, die ich nicht einschätzen kann, weil
ich sie noch nicht oder noch nicht vollständig oder noch nicht oft
genug gelesen habe und also nicht guten Gewissens entscheiden könnte,
ob sie mir überflüssig sind oder nicht. "Lempriére´s
Wörterbuch" von Lawrence Norfolk brauchte einige Jahre und
mindestens drei Anläufe, bevor ich die Lektüre wirklich bewältigte
und mich in das Buch regelrecht verliebt habe. Es gibt Bücher, an
denen ich bisher gescheitert bin, ohne sagen zu können (und ohne
es glauben zu können), dass sie und ich füreinander nicht taugen.
Prousts "Combray" zum Beispiel: In wunderbarer Sprache breit
und anschaulich erzählt, und doch versandete mein Interesse daran,
nachdem ich es zur Hälfte gelesen hatte. Oder Joyce´s "Olysses",
den ich bisher noch nicht einmal bis zur Hälfte zu durchdringen vermochte.
Ebenso wie "In Gestalt eines Ebers" von eben erwähntem
Norfolk oder "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" von
Rilke ...- Ich möchte doch wissen, was es mit diesen Werken und meinem
Verhältnis zu ihnen tatsächlich auf sich hat, bevor ich über
sie entscheide, und also warten sie nach wie vor auf ihre Gelegenheit.
Und das - wie auch der Fakt, dass es in unseren Regalen nach wie vor noch
völlig unerkannte Bücher gibt - ist ein wahrer Segen, denn es
bewahrt uns ebenso wie unsere Gewohnheit, Geschätztes immer wieder
zu lesen, vor dem fatalen Drang, uns ständig neue Druckwerke anzuschaffen.
So sparen wir Geld, vergeuden weniger Zeit und schützen die Umwelt.
02.02.2022
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